24.8.06

Von 100 auf 0 in 10 Minuten

Wie immer mittwochs tranken Sara und ich Milchkaffee und assen die kleinen heissen gerollten Margheritas, die uns für den Tag stärken würden. Wie immer nahmen wir die S-Bahn nach Stadelhofen, wie immer lud mich der Angestellte der SBB auf den gelben Lifter, von dem aus ich schon so oft den päpstlichen Segen erteilt habe. Es ist ein Reflex, den ich schon vor fast 30 Jahren unfreiwillig erlernte, dieses blitzschnelle Trennen des Ich von meinem eigenen Körper, dieses Inszenieren einer witzigen Szene, die mich davor bewahrt, auf der Stelle zu sterben vor Scham und Schmerz und die mich so souverän aussehen lässt. Der Angestellte stieg ebenfalls ein und liess uns wissen, dass in Stadelhofen der Personenlift während drei Wochen revidiert würde (drei Wochen lang? – drei Wochen lang! Ein Lift, der drei Etagen bedient? Putzen die pro Woche einen Etagenknopf? Oder putzen sie in jeder Etage den Lift eine Woche lang?) und dass jetzt dort dafür so lange eine Art Treppenraupe wäre, wo man den Rollstuhl befestigen kann und dann würde die Maschine mit mir die Stufen hinunter kriechen, das sei alles kein Problem, sie hätten eine Ausbildung gemacht und ich bräuchte keine Angst haben. Ich hatte keine Angst, machte aber den Kaschper, wie immer, wenn ich ein ungutes Gefühl übermalen will. Jedenfalls merkte das der Angestellte nicht. Bis Stadelhofen hatte er mir x-mal versichert, Angst sei nicht angebracht… Mir dämmerte, er beschwichtige sich selbst. Die erste würde ich sein, es warte der Kollege mit Schnauz und Brille (Albert Einstein? Joe Cocker?), der würde mich fotografieren und die Foto wäre dann im www. Ob ich e-Mail habe. Er schickt mir dann auch die Foto. Isjairre.

Das gelbe Kurbelmonster befördert mich in Stadelhofen von Boden zu Boden. Am Boden unten erwartete mich ein Ding. Unfassbar hässlich, wie alle Hilfsmittel. Die beiden Männer – der Kollege mit Schnauz und Brille, und der Angestellte der SBB mit Warnleuchtstreifen auf der Jacke, die ich der Kürze halber Lolek und Bolek nennen will – zogen mich rückwärts auf die Maschine. Über mir also fuchtelten Lolek und Bolek links und rechts, schnall si aa und jo ich han doch und nei lueg do so und es goht nöd und gopf und jo jetzä und Aaachtung jetzt kippemer! Sie kippten mich wirklich. Wie ein V lag ich da, nein, nicht ich, ICH war schon längst wieder draussen und inszenierte, ich liess mich kreischen, damit Bolek wieder markieren könne nur kei Angscht, ich sah, wie ich mit der Furcht erregenden Geschwindigkeit von 25cm pro Stunde Richtung Treppenabsatz gestampft wurde, ein Bündel V, beglotz und begafft vom GANZEN Bahnhof Stadelhofen, von ännet dem See starrte man durchs Fernrohr auf die Behinderte da, die ihren Kopf nirgends auflegen, nirgends anlehnen konnte, die mit gen Horizont (der ist in der Schweiz irgendwo OBEN) weisenden Füssen, fast so ausgeliefert wie beim Gynäkologen, den Nadelstichen der Blicke langsamer als eine Schnecke entfloh, auch in den Albträumen geschieht Flucht so demonstrativ zäh, doch sollte ich der Tortur nicht entkommen, bevor die Maschine meine Hülle in die Horizontale schüttet, denn nun beginnt der Abstieg. Ein sanfter Schmetterling zitterte neben mir und seine glitzernden Schuppen zauberten eine Wolke um mich, die mich alle Laute vergessen liess, und sein Herz weinte. Mit unerschütterlicher Maschinenkraft walzte es in die rettende Tiefe.

Doch da fotografierte Lolek mit dem Handy. Ich liess mich lächeln. Bis der Zwischenabsatz kam. Denn: wieder rauf ins V. Im Affenzahn bis zum nächsten Treppenabsatz. Unnnnd wieder runter vom V.

Da konnte ich mich nicht einmal mehr lächeln lassen.

Das alles hatte zehn Minuten gedauert. Der Tag hatte gut angefangen, sehr gut sogar, auch war es sonnig und mild. Und nun - - -

Lolek und Bolek beglückwünschten sich gegenseitig und fragten mich begeistert, ob es mir gut gehe, was ich freilich bejahte, denn so bin ich, was brauchen sie denn mehr als die Bestätigung, die besten Beschützer der Welt zu sein, die tollsten Überwinder schwierigster Hindernisse, die souveränsten Meister der Mechanik.

Was ich brauchte, war Schokolade. Viel Schokolade. Fürchterlich viel Schokolade… Am Ende war es aber nur ein Mohrenkopf.

Die Forchbahn fuhr uns vor der Nase weg.

Es braucht drei Männer, die spielend meinen Rolli tragen, einen vorne rechts, einen vorne links, einen hinten. In 20 Sekunden wäre ich unten gewesen. Hätte in Frieden meinen Ingwer fürs Abendessen kaufen können.

Später kamen wir doch noch auf den Balgrist. Sara fächelte fein ihre beschuppten Flügel über mir… Sie hatte Mitgefühl. Schwimmend nahm mich mein Körper wieder auf.

So erschöpft war ich schon lange nicht mehr. An eine Erschöpfung dieser Art kann ich mich überhaupt gar nicht erinnern.

Schlussbetrachtungen:

Durch die Brille des „Pilotprojekt Assistenzbudget“ gilt der Höllenritt auf dem Treppenwälzer als „direkte Assistenzleistung einer selbständig tätigen Organisation“, wird aber nicht bezahlt, weil die SBB für dieses Delikt verantwortlich ist und es als Behindertenvergnügen grosszügig selber berappt. Saras Mitgefühl buch ich unter „Haushalt“ ab. Oder „Pflege“? Durch die Brille der IV ist der bahnhöfliche Spiessrutenlauf zweifelsohne als „zumutbar“ einzustufen und fällt finanziell sowieso nicht ins Gewicht, jo wo chämte mer do au hi. Überhaupt soll ich nicht so blöd tun und das Mimösli raushängen, schliesslich haben Lolek und Bolek es ja nicht bös gemeint.

Jedenfalls wird ich die nächsten beiden Mittwoche im Taxi auf den Balgrist fahren. DEN Clown hab ich zum letzten Mal gegeben.

9.8.06

Disput über dem Silbersee oder Die Heggsen auf dem Bloggsberg…

Himbeerromanze und Pflaumenschmarrn waren längst verdückt, als wir uns zum Nachhausegehen erhoben (also ich blieb freilich zum Nachhauserollen sitzen).

Ich: „Du kannst es drehen und wenden, wie Du willst. Ein schaler Nachgeschmack bleibt. Eine Schräglage. Egal, wie viele Familienväter heutezutage arbeitslos werden, wenn Du und ich gehen und uns um den gleichen Job bewerben, Du wirst ihn bekommen und ich nicht.“

Ellen: „Ja loogooo! Es ist einfach so! Schau, es ist einfach so. Es ist ungerecht, ja, es ist ungerecht, aber es ist so! In einer Zeit, wo völlig gesunde Leute ihren Arbeitsplatz verlieren, wo sich niemand den Aufwand, den finanziellen wie den sozialen Aufwand, leisten kann, jemanden mit Behinderung anzustellen, wenn halt hundert gesunde Leute den Job machen können, ist es einfach so.“

Die Pilze, die ich vorher gegessen hatte, riefen mir bereits das stille und stumme Männlein in Erinnerung, das im Wald steht. Dennoch will ich immer wieder scheu das Wort ergreifen oder aufnehmen. Denn es ist zweifellos so: Das Geld hat das Sagen. Die Finanzlage. Die Wirtschaftlichkeit. Die wirtschaftliche Machbarkeit. Die wirtschaftliche Zumutbarkeit. Geld. Geld. Unser Franken. Geld. Die Bäume des Waldes, in dem das Männlein mit dem Purpurmäntelein so allein steht, haben Geldscheine an den Zweigen und Menschen mit Behinderung sind selten Kinder des Herbstes.

Ellen: „Mach Vorschläge und zeig mit Zahlen, so und so und so: schaut her, auf diese Art und Weise können wir mit weniger finanziellem Aufwand das Gleiche oder sogar mehr erreichen. Dann wird das jossoffort! gemacht.“

Und auch das ist so. Was weniger kostet, wird umgesetzt. Was moralisch besser, ethisch klangvoller ist, wird nur umgesetzt, wenn es auch weniger kostet.

Ich überlege, dass ich auch mit Kartoffelpüree meinen Bauch vollgekriegt hätte. Dass es echten Kartoffelpüree gibt, und solchen aus dem Päckli. Dass auch echter, selbst gemachter Kartoffelpüree grauslich schmecken kann, wenn man ihn versalzt oder vermuskatet. Dass es Menschen gibt, die Kartoffelpüree über alles lieben, und solche, die sich mit Schaudern abwenden. Dass man immer von der Liebe spricht, mit der selbst Gemachtes besser schmecken soll. Es gibt liebevoll selbst Zubereitetes, und schludrig selbst Zubereitetes. – Mein Kalbfleisch hatte ganz vorzüglich geschmeckt – und entsprechend viel gekostet – oder verdient der Koch gar nicht so viel, kocht dafür mit Liebe – mit teuren Zutaten – Wirtschaft – Argumente – Hintergründe – notwendig – nicht notwendig – sinnvoll – Sparen – Geld…

Das Kalbsgeschnetzelte ass ich gerne… War es mit Liebe gekocht? Egal, es schmeckte ganz vorzüglich. Billig war es nicht.

Ich liebe Ellen. Sie sagt Sätze wie „In ein paar Jahren werden fast alle Läden zugänglich sein, aber wegen den Alten, von denen es immer mehr gibt, sicher nicht wegen den Behinderten!“ Wumm. Sie sagt auch „Es ist ungerecht, aber es ist so.“ Ist so, ist so, ist so (das sag’ jetzt ich). Ist so, auch wenn in der Bundesverfassung irgendwas von darf nicht oder soll nicht diskriminiert werden steht, in einem Paragraphen ganz am Anfang, wegen Rasse oder Glaubenszugehörigkeit oder Behinderung oder Geschlecht oder Status ‚Alleinerziehend’ oder Eigenschaft ‚Verliebt in einen Nichteuropäer’ und irgendwo steht dort auch Die Menschenwürde ist unantastbar und ich merke: Es ist ein sprachliches Problem!! Es ist ganz einfach die falsche Modalität! …Menschenwürde IST unantastbar stimmt gar nicht, richtig wäre SOLL unantastbar sein! Das Wortverfängnis um die Diskriminierung entbehrt der Nachsätze Leider ist es eben doch so und bleibt so, solange diese Minderheiten ihre Makel nicht attraktiv, höchst erstrebenswert und ultrabillig machen oder Aber die wirtschaftlichen Interessen gehen vor oder (Das glaubt ihr aber nicht im Ernst, oder?).

Freilich werden manche mir jetzt Verbitterung und Resignation nachsagen. Darum soll es aber nicht gehen, das soll nicht das Thema sein, mit dem von den aufgeworfenen Inhalten abgelenkt werden kann, das soll niemandem als Zielscheibe dienen. Dass es nicht so ist, ist hier nicht von Belang.

Silbern glitzert weit unter uns der Zürichsee. Ein Schatz liegt im Silbersee… Ich will fünf Millionen Euro. Dann gehöre ich zwar auch zu einer Minderheit – der Minderheit der Reichen – aber dann ist nicht mehr wichtig, ob und wie krank ich bin, ob ich eine Frau bin, ob ich einen mittellosen Puerto Ricaner heiraten möchte, ob ich für meine Kinder einen Platz im Hort bekomme und über die Frage der beruflichen Eingliederung kann ich nur mehr lachen (dass ich dann auch nicht mehr als „Behinderte“ bezeichnet würde, sei hier am Rande vermerkt).

Bitte noch ein Pflümli.

Vollmond bei der Bloggse

02.40 Mit glühender Hitze im Körper wache ich auf und weiss gleich, dass ein Weiterschlafen unmöglich ist. Ein Temperaturproblem der anderen Art: Es lässt mich meine Füsse auf die kalten Badezimmerbodenplatten stellen. Ich finde angenehm, was sonst schrecklich ist.

02.50 Licht an. No way, ich muss runterkühlen. Ich lerne K51 – K56 von „Zusammen- und Getrenntschreibung“ im Duden Die deutsche Rechtschreibung. Was war das ein Theater seit 1996. Deutsche Sprack, schwäääre Sprack!

03.40 Aus der Küche lärmt es wie Bretterkrachen auf einer Baustelle. Dann blubbert es wie Säcke voll Luft unter Wasser. Kafka sitzt auf dem Kistchen… Ich tröste ganz fest. Den Rest der Nacht wird er ganz anständig brav neben meinem Bett auf dem Boden schlafen. So ein Guter.

04.00 Ich bin ausgekühlt und leg mich wieder hin.

05.55 Weil ich 3 Liter Bier getrunken habe, muss ich raus. Wälz, Transfer, Zurechtrück, rüber ins Bad, Transfer, Wackel, Knall, Wechsel…, Hau-Ruck, Turn, Transfer, zurück ins Schlafzimmer, mein Schlapfen bleibt zwischen Griffreifen und Felge klemmen, ich reisse…, transferro, und deck mich zu.

08.45 Seit heute Morgen um sechs habe ich 5 Liter Bier getrunken: Wälz, Transfer, Zurechtrück, rüber ins Bad, Transfer, Wackel, Knall, Wechsel…, Hau-Ruck, Turn, Transfer, zurück ins Schlafzimmer, mein Schlapfen liegt scheu in der Ecke, wo ich ihn vor drei Stunden hingeknallt hatte, Transfer, und ich schlafe erschöpft ein.

Überlegung: Vielleicht ist Biersaufen auch eine neurologische Erkrankung? Ob zuviel Bier oder zuwenig Frataxin, gepinkelt wird in Unmengen.

09.30 Jetzt aber.

10.40 Mein Lieblingssatz im Präsens: Kafka kotzt. Da muss sich irgendeine Bakterie durch seinen Darm gewühlt haben! Inzwischen ist aber Sara gekommen und hat alle Malheure beseitigt.

11.36 Wir haben den Bus verpasst.

11.25 Und jetzt haben wir den Zug verpasst.

13.06 Also, in die Forchbahn muss erst die Begleitperson einsteigen und dann drinnen auf den Knopf mit dem Rollstuhlzeichen drücken, dann hurtig wieder rauskommen und dann die Person mit Rolli hurtig hurtig reinhieven. Der Schofföhr steht draussen und schaut zu, wie Sara sich abmüht und ich von der Tür eingeklemmt werde. Als wir schnaufend drin sind, juckt er fuchtelnd zu uns herüber und fragt ischs ggange?

14.37 Ich hab ihn, meinen Kilometer! (Auf den Balgrist pilgere ich jede Woche zum Schwimmen.)

14.41 Beim Duschen bringt Sara den heutigen Tag auf den Punkt. Bizzeli kalt warm fertig.

15.45 In der heutigen Post liegt ein Couvert vom Amt für Ergänzungsleistungen.

Ich FÜRCHTE mich vor Couverts

          • vom Amt für Ergänzungsleistungen,
          • von der SVA St. Gallen und
          • von der SVA Zürich.

In dem Brief steht, dass mir Geld überwiesen wird. Ja schön, eigentlich, nur gehört das Geld gar nicht mir, sondern der BTZ. Immerhin heisst die zuständige Dame Angler und nicht Ängeli analog dem Trio Lamentabile Sitzli, Tülpli und Schnäggli von der SVA St. Gallen.

16.20 Ich ruf auf dem Amt an. Doch wie komm ich nur auf eine derart aberwahnwitzige Idee??

Zu dieser Unzeit ist doch niemand mehr im Büro.

Oder doch im Büro, aber nach em fieri nimmi sicher nüme nabb.

17.51 Corinne holt meine Wäsche ab. Während ihre kleine Tochter den heute so indisponierten Kafka mit Pingpong-Bällen aufmuntert, notiert sich Corinne, welche Gemüse ich nicht mag (Fenchel, Stangensellerie), welche Gewürze (Kümmel) und welches Fleisch (die armen Schweine). Corinne wird mich künftig einmal pro Woche abendbekochen.

19.02 Ich schau „heute“. Bisher hab ich zwischen Spinatkochen, Reiszustellen und Katerfüttern geschrieben und werde nach der „Tagesschau“ weiterschreiben. Unsereins kennt keine Blockzeiten.

19.10 Filomena ruft an und gibt mir die Vonbisdaten ihrer Ferien durch. Corinne wird den Nachtpikett übernehmen.

20.14 In den Informationen zur Verwendung des Assistenzgeldes finde ich nicht, ob die Hotelkosten der Begleitperson der Pauschale oder dem Assistenzbudget zu belasten sind. Und was ist, wenn der Rechnungsbetrag höher ist als eine Pauschale. e-Mail nach St. Gallen. Uffa.

20.39 Mir fällt ein, dass ich ja noch die Arbeitsrapporte der letzten drei Tage nachführen muss. Ob Fr. Sitzli & Co. eine Ahnung haben, dass ich 6 Stunden 39 Minuten nach ihrem Arbeitsschluss den meinen noch nicht habe?

Oder „den Meinen“? So weit bin ich in der neuen deutschen Rechtschreibung noch nicht.