10.9.06

Entschuldigung!

Als Kind fragte ich mich, loderndes Gemüt!, wozu eine Lebensversicherung gut sein soll, was denn das eigentlich sei, wenn man stirbt, ist man doch tot, da hat man doch nichts davon, wenn man dann dafür Geld bekommt, eigentlich müsste doch so eine Versicherung dann eingeschaltet werden, wenn man noch lebt, etwa in Momenten von Lebensgefahr, um einem das Leben zu sichern, so lautet ja auch der Name, „Lebens-Versicherung“, nicht *Todesversicherung*. Usw. Ich verwechselte die Lebensversicherung ganz eindeutig mit den Schutzengeln. Später lernte ich dann, dass Namen nicht notwendigerweise etwas mit den von ihnen gemeinten Inhalten zu tun haben. Von einer Lebensversicherung profitieren andere, nicht der Versicherte selbst. Und mit dem Leben (des Versicherten) ist es dann auch schon vorbei.

Mein Leben verläuft kreisförmig, nicht als Linie, und so begegne ich den Prinzipien wieder, abgeänderte Ausgangslage, neue Konstellationen, andere Wörter – aber gleiches Prinzip.

Ich stelle einen Antrag auf Erhöhung meiner Hilflosenentschädigung (in Zürich, IV-Stelle Zürich, SVA Zürich…), die unvermeidliche Überprüferin kommt zu mir nach Hause, man kennt das, gibt eine befürwortende Empfehlung an die entscheidende Stelle, das kennt man seltener, und dann. Ja dann nichts. Monatelang nichts. Verlauert, verschlampt, vergessen. Ich warte, weil man ja Nachsicht haben muss mit der Behörde. Schliesslich, auf meine Nachfrage hin, geht dann alles sehr schnell, Frau Schumi schickt meine Unterlagen nach St. Gallen, dort wird gesetzestreu sogar rückwirkend alles geregelt (bis zum Umzug meines Dossiers von ZH nach SG), aber die vielen Monate Lauerei, Schlamperei, Trödelei von vorher, die sind verloren (vielleicht fällt ja den geneigten Lesern von den diversen SVAs und BSVs dazu noch etwas ein?). Eine Menge Kröten, mit denen ich mir sehr viel Assistenz hätte kaufen können. Ich hätte sie gebraucht, die Assistenz, hatte stattdessen jedoch nichts als Stress.

Was sagt Frau Schumi? „Entschuldigung“.

Im Schauspielhaus feiert der Ammann-Verlag sein 25-jähriges Bestehen mit einer Lesung von Texten von Fernando Pessoa. Schauspieler sind anwesend, auch viele Autoren, es duftet nach Büchern. Was bin ich glücklich! Keine körperliche oder geistige oder psychische Behinderung ist das Thema, keine Diskriminierung, keine IVG-Revision, sondern Wahrnehmung, Wahrheit und Bewusstsein. Es geht um Stille, ums Zuhören und sich Einlassen. Meine Schwester und ich kaufen Bücher. Wenn das Herz denken könnte, stünde es still. Und so kommen wir fünf Minuten zu spät zum Taxi. Nein, zum Behinderten-Transport, bitteschön, so heisst das, glaub ja nicht, du bekommst Wörter wie die gesunden Menschen, du Knödel im Rollstuhl, du wirst transportiert und nicht gefahren, welcome back to reality, so isses, gälledsi, fertig Kultur, fertig Schauspielhaus, jetzt bist du wieder eine Behinderte und sonst nichts. Fünf Minuten zu spät also. Wir kommen bis auf zwei Meter ans Büssli ran, stehen da ein paar Sekunden und – es fährt weg. Ab. Davon. Adieu!

Was sagt der Einsatzleiter, als ich ihm das erzähle? „Entschuldigung“…

Am lucernefestival veranstalteten Kantonsschüler einen Poetry slam, was heisst, sie performen auf der Bühne ihre eigenen Gedichte. Das wollte ich sehen, da wollte ich hin. Anne, meine Assistentin, würde mich begleiten.

Ich bestellte am Abend vorher einen Behinderten-Transport (ahem!) für 17 Uhr, denn der Zug fährt kurz nach 18 Uhr, aber um diese Tageszeit ist Stosszeit und ich sorge vor, lüge, wir müssten um Viertel vor sechs am Bahnhof sein. Der Behinderten-Transport (würg!!) kommt um Viertel nach fünf. Anne und ich schauen uns an, wissen aber, es reicht auch jetzt noch. Meinen gelogenen Termin würden wir zwar verpassen, nicht aber den richtigen. Doch dann, im letzten Moment!, dirigiert Anne den Chauffeur nach rechts, denn links geht es in den Abgrund, ins Schilf, nach Timbuktu, jedenfalls ins Abseits, mitten ins verstopfte Chaos, wir wären nie und nimmer rechtzeitig angekommen, selbst zum wirklichen Termin nicht. Rechts, da, wo man gemäss Dispo nie!!! durchfahren soll, da kamen wir nach 20 Minuten am Bahnhof an. Zeit für Bratwurst und Cola. Schlender zum Bahnsteig. Weshalb ist das Getue und Gefummel ums Behindertenwesen immer so umständlich, so zäh, einfach so entsetzlich mühsam? Meine gute Anne! So direkt, so praktisch, so klar! Wir müssen zum Bahnhof? Also hopp und da durch und dort durch und da sind wir. Dass ich behindert bin, ist doch kein Grund, im Stau zu stehen!

Au hoppala. Jetzt hab ich aber was gesagt. Haben behindert sein und im Stau stehen vielleicht doch etwas miteinander zu tun…?

Immerhin bot uns die Disponentin an, uns nach Luzern zu fahren, weil sie ja annehmen musste, wir hätten den Zug versäumt. Und was sagte sie noch? – Natürlich. „Entschuldigung“!

Was bleibt? Ein beträchtlicher finanzieller Schaden, die Tatsache eines fortgefahrenen, rollstuhlgerechten Taxis, ein im letzten Moment geretteter Abend. Drei „Entschuldigungs“, das erste faul und billig, das zweite zumindest fragwürdig, das dritte aufrichtig und um Wiedergutmachung bemüht. Was ebenfalls bleibt, ist die ernüchternde Erkenntnis, dass ich mich auf niemanden als auf mich selbst und auf die, die mir nahestehen, verlassen kann. Behindert sein ist irgendwie ähnlich wie das Abschliessen einer Lebensversicherung: Im ersten Fall hat man den Schaden in Form der Verfehlung, die an einem begangen wurde, im zweiten Fall hat man den Schaden in Form des gestorben Seins. Den Schaden hat man aber auf jeden Fall. Im zweiten Fall hat man endlich Ruhe, im ersten muss man sich Ausreden und Entschuldigungen aller Schattierungen gefallen lassen und läuft erst noch Gefahr, als hart, unfreundlich und verständnislos zu gelten, wenn zur aberwitzigsten Entschuldigung nicht lieb gelächelt wird.

Was hier auch sehr gut passt: Wie die UNO einfach und zutreffend Behinderung definiert. Nämlich nicht als Eigenschaft der betroffenen Person, sondern als Ergebnis der zwischen betroffener Person und ihrer Umwelt bestehenden Wechselbeziehungen. Grotesk: Die IV behindert mich. Zum Heulen: Das Transportwesen behindert mich.

Ich geh jetzt schlafen und träume vom Fliegen. Gute Nacht.