30.6.09

Nachtragsmüdigkeit, Vortragsfrische

Ja also nein, er ist noch immer nicht da, der neue e-fix. Und es ist mir kreuzegal. Ironie ist die Waffe der Machtlosen. Gleichgültigkeit die der Sottigen. Manchmal ist das noch läss zu kombinieren…

Stimmt aber nicht. Nicht, wenn der Waffengedanke eine Rolle spielt. So wie eine Kämpferin, die dem Schlag ihrer Gegnerin ausweicht, lass ich mich in der Buchstabensuppe mittreiben. Es ist ein Entschluss. Was habe ich denn für eine Wahl, als freiwillig eben das zu tun, wozu mich die Konsonanten zwingen? Sie wissen ja nicht, was sie tun. Konsonanten sind sich der Möglichkeit zu einem Bewusstsein nicht bewusst. Ich andrerseits kann mir eine gewisse Freiheit im Denken einbilden.

Eigentlich war nicht diese Erkenntnis der Grund, weshalb ich im März wieder verstummte. Auch nicht, dass ich nicht noch weitergeschrieben hätte an die diversen Herren. Ja, sogar noch einen Besuchstag legte ich ein. Erst war ich auf der SVA bei Herrn Segenhor, der zwar aussergewöhnlich höflich war – er liess mich wirklich immer ausreden – aber auch erschreckend praxisfern – dass es Rollstühle gibt, davon wusste er, aber dass ein e-fix keine Exklusivanfertigung für die schnoddrige Sottige ist, sondern ein ganz gewöhnliches Behindimobiding, das wusste er nicht. Danach war ich noch auf dem Amt für Zusatzleistungen zur AHV und zum IV und machte einem ganz besonders kursiven Konsonanten deutlich, dass ich gern eine Antwort hätte auf meine schon vor Monaten gestellte und von Zeit zu Zeit wiederholte Frage. Es roch aber auch wirklich grässlich papiermodrig in diesen schal beleuchteten Gängen, in denen kafkaeske Gestalten mit turmhohen, zwischen flache Hände und Kinn geklemmten Papierstapeln, herumschlurften. Von dem in diesem Zusammenhang ganz unbefugten Leistungsunfug sind Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, bis anhin verschont geblieben. Und das soll auch so bleiben.

Nein: Im April standen Ferien auf dem Plan. New York. San Francisco. – Sehr viel war vorzubereiten. Die obligatorisch zu konfrontierende Onlinefrage, ob die einreisebeantragende Person drogenabhängig ODER körperlich oder geistig potentiell Ungemach verursachend ODER dem Terrorismus zugeneigt sei, beantwortet auch nur eine sottige Tüte wie ich mit . Der Beamte auf dem Konsulat in Bern, wo ich im Folgenden hin musste, um ein Visum zu beantragen, wand sich vor lauter sorry sorry sorry sorry und I know I know I know I know. Meine Mitsottigen seien hiermit ganz legal aufgefordert, diese Frage in allfälligen ähnlichen Situationen mit zu beantworten, denn ich hab die Erlaubnis von der American Embassy, zu verbreiten: Juchhee! Disabled people in Switzerland, kreuzt in Obamas Namen einfach überall an. Dann müsst Ihr keine 500 Stutz für Visumsfötteli, Visum, Fahrkarte nach Bern und Spesen hinblättern. Bei der Ankunft in New York werdet Ihr später auch nicht behandelt, als kämet Ihr aus Guantanamo.

So wird dieser essay nie fertig. – Also Stichworte:

Ferien in den Juu Ess Ejj sind keine Erholung für den Körper, aber eine nicht endende Wohltat für die Seele. Sottige brauchen nicht fragen Wo kann ich denn hingehen?, sie können sich lächelnd überlegen Wo geh ich heute hin? – Es dauerte einige Tage, bis ich das bemerkte, damals, als ich das erste Mal in New York war. Ein Restaurant hat einen Tisch in einem Erker, wo die Bedienung von innen nur via Leiter hinkommen konnte – eine einzige Verrücktheit! – und da will ich freilich hin und drei Männer stemmen mich mitsamt Rolli von aussen hinauf. Viel wird gescherzt, Augen leuchten und von nirgendwo tönt’s Jo Si daa goot nööd…


„Oh sure, of course!“ – Ulrika’s, 115 East 60th Street

Bördli an den Randsteinen, an den Kreuzungen? – Oh Helvetia Sanctissima, wie viel musst Du noch lernen! Abflachen allein genügt nicht, wenn dann halt noch immer drei, vier, fünf oder sechs Zentimeter stehen bleiben. Dass es geht mit dem Plafonieren, ist an den Velowegen zu sehen! Dort sind nämlich zwischen Fahrbahn und Trottoir – null – Zentimeter Höhenunterschied. Aha. Ginge also. In New York geht es auch für Sottige. Ganz einfach an jeder Kreuzung zwischen allen anderen Menschen. Ohne Extraauflage, Sonderschutz, Spezialmassnahme und unzumutbaren Mehraufwand. Hm.


Flanieren, Flanieren, Flanieren. Schauen: links, rechts, oben. Nicht aufgehalten werden durch: unten. Keine abgesaugte Aufmerksamkeit durch ewig blöde Randsteine. Sein können. Sein können und geniessen.

Starrende Goofen? – Auch deine Eltern, Helvetia dulcis, müssen noch sehr viel lernen. Denn er ist nicht wahr, dieser Mythos der selig neugierigen Kinder, die eben das bestaunen, was sie nicht kennen. Ich wurde sehr wohl auch angesehen, von den Kindern in New York, den Kindern in San Francisco. Aber interessiert schauen ist nicht gleich präpotent glotzen. Hat es vielleicht mit dem verkrampften Befinden zu tun, in dem die Menschen hier zappeln, wenn sie auf Aliens in Rollstühlen treffen und ihre elterliche Hilflosigkeit in einem Mueschnödluege! gipfelt, das geheimnisvoll-geniert den Kindern zugeraunt wird, die dann nur um so eindringlicher beäugen, was da so eigenartig ist? Eigen art ig. Eigene Art (… um nicht zu sagen, denn wir befinden uns auf englischsprachigem Terrain: eigene Kunst – jedenfalls: na und?). – Unendlich gross war mein Genuss, nichts Besonderes zu sein. In New York gehört schlicht jeder einer Minderheit an: Schwarze, Latinos, Menschen mit Behinderung, Chinesen, Japaner, Obdachlose, alleinerziehende Mütter, Schwule, Lesben, Frauen, die Opfer männlicher Gewalt wurden, irgendwelche Religionen... Selbst die Weissen sind im Verhältnis zu allen andern zusammen in der Minderzahl. Und deshalb ist es EGAL und deshalb tritt man erst mal mit RESPEKT an den Nächsten heran. Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet die Polizei in New York diejenigen drei Worte auf ihre Autos gemalt hat, welche ich an den meisten Menschen hierzulande, mit denen ich zu tun haben muss, sehnlichst vermisse?


Höflichkeit – Professionalität – Respekt: Etwas fehlt garantiert immer und nicht selten alles…

In San Francisco wurde selbst in der Schwulenbar ein Tischli runtergeklappt, damit ich meinen Drink in menschenwürdige Höhe stellen kann. Auch in Banken und Geldwechselstuben gab es so flotte tiefergelegte Tresen. Dies mit special dedication an die hirnlosen Designeridioten, die neuerdings überall in Zürich so hippe Stehlokale hinswappen. Wow, geil.


Wheelchair accessible: In den Rollstühlen sitzen Menschen, die halt ein wenig anders, im Prinzip aber ebenso wenig anders als alle andern Menschen anders funktionieren, funktionieren – weil alle Menschen sowieso verschieden sind: Vordergründig wenigstens haben die Amerikaner das verstanden.

Busfahren? Während sich die Eidgenossen und einige ihrer ungeliebten europäischen Ausländer dollstens auf die Brust klopfen – Huerechaschte! – weil sie nach jahrzehntlangem Ächzen und finanziellem Stöhnen auf ein paar Linien im städtischen Netz Niederflurbusse einsetzen (sie fahren aber leider nicht zuverlässig immer), hat man ennet des Atlantiks schon längst bemerkt, dass man die Rollstühle auch fixieren muss, weil sie bei einem Notstopp sonst wie Geschosse durch den Wagen zischen – samt ihren Benützern drin. Ou jo do müend Si dänn aalüte, hät’s Ine öppis gmacht? Ich hatte mir lediglich die Brille ins Gesicht gerammt… Das war mal in der Forchbahn. Ganz läss war das.


Soodeli sieht das aus. Klick. Hat jeder Assistent im Handumdrehen raus und sowieso ist der Chauffeur verpflichtet – denn es ist GESETZ.

Man kann’s freilich auch übertreiben mit der Rollstuhlanschreiberei. Schön und absolut in Ordnung, wenn’s endlich mal genügend Rollstuhlparkplätze gibt und diese auch nicht von irgendwelchen Huschhuscheinkaufmödelimamelis missbraucht werden, endlich mal überall angeschriebene Eingänge, die nicht Neben-, Hinter- oder Tiefgaragen sind und auch viele automatische Türöffner, aber eben: Am Ende wird alles grotesk, wenn es übertrieben wird!


Hier wird angedeutet, dass Rollstuhlfahrende allesamt Affen sind. Wie sonst als mit sehr langen Armen wäre der Seifenspender zu erreichen? Der intensive Denker übrigens ist Joaquim, der wahnsinnig genug war, mich während der zwei USA-Wochen zu begleiten. – Die schlauen Waschbecken wurden im Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco gesichtet, in der Tat ein Kunststück.

Den e-fix hab ich am Strand vom Pazifik möglicherweise ruiniert –wie sehr mich das kratzt, wurde schon zu Beginn dieses Aufsatzes festgehalten – einen neuen werde ich so oder so, irgend oder wie, auftreiben müssen. Joaquim stemmte sich mit aller Kraft gegen den schier unbezwingbaren Widerstand, während ich im Outdoormodus Vollgas gab. So pflügten wir mich durch den wirbligen Sand an denjenigen Ort, der für Sottige sonst meist unerreichbar bleibt, dorthin, wo die gebrochenen Wellen sich den Strand emporlecken und nie kann man genau einschätzen, bis wohin die salzige Nässe reichen wird: Joaquims Kleider wurden allesamt nass und ich habe nun Sand im Getriebe.


… Aber dafür!

Gewiss soll dieser Text nicht im Ton einer Amerika-Zujubelei klingen. Warum das nicht zu sein hat, erklärt sich aus Tonnen von Geschichtsbüchern und Biografien und dürfte auch einem nichtliterarischen oder nichtpolitischen Auge in dasselbe springen. Dennoch ist Manhattan mein ganz persönlicher Traum, dies Nebeneinander von Jugendstil und Leuchtreklame, Subway und Metropolitan Museum of Art, Little Italy und Frick Collection, Times Square und Pierpont Morgan Library und weiteren, unzähligen Gegensätzen. Die Dichte der hier angesiedelten Kunstgüter ist so unvergleichlich wie die der Skyline, selbst ohne die Twin Towers. Zwischen den himmelstrebenden Riesen, im nie endenden Sirenenlärm versinke ich in einem wundervoll namenlosen Sein. Mit einem Rollstuhl hat das eigentlich überhaupt nichts zu tun. Zahllosen Menschenseelen ging und geht es so. Doch fügt ein Rollstuhl diesem Erleben eine Facette hinzu und es wird auf diese Weise intensiver.

So, wie jede Erfahrung an Intensität gewinnt, wenn sie hart erarbeitet wird. So, wie das ganze Leben an Intensität gewinnt, wenn viele harte Schädel aufgekracht werden müssen.

Ferien haben immer einen unsäglichen Nachteil: Man muss wieder zurück kommen. Von San Francisco oder New York heimzukehren nach Zürich ist für Rollstuhlfahrende wie für Frösche eine Heimkehr aus feuchtem, wuchernden Sumpf in die Wüste mit etwas dürftigem Gestrüpp.

Apropos Zurückkommen. Das ist der letzte Aufsatz, den ich an dieser Stelle, auf dieser Website, veröffentliche. Ich bastle meine eigene Seite und hier gibt’s dann einen Link. Das Designen ist schwierig, vor allem, wenn die Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistungsfähigkeit so gross ist, wie bei der Sottigen. Ach, muss noch schauen. Jedenfalls gibt es diesmal, nach den vielen unbeabsichtigten, eine beabsichtigte Pause!

Au revoir