21.5.07

Heute ganz unpolitisch

Gestern erzählte der alternde tolle Hecht dem beinamputierten Mädchen die Geschichte von dem Indianerjungen, der kopfüber in einen See gesprungen war und auf dem Grund aufgeschlagen und deswegen dann querschnittgelähmt. Und seither irgendwie nicht mehr da. In einer andern Welt. In seinem Körper sei nur noch Aggression gewesen. Er selbst war fort. Das beinamputierte Mädchen, das später an der Seite eines jüngeren Schönlings durchaus doppelbebeint Karriere machen würde, meinte, sie kenne diese Welt. Der herbe Blonde: Sie solle nicht aufgeben und da bleiben. – Cut! – Filmromanze. – Hollywood.

Das Café gegenüber ist meine ganz persönliche Schlangengrube. Es ist, um es auf den Punkt zu bringen, die institutionalisierte Materialisierung der Heuchelei. Allegorie der Verlogenheit. Brennpunkt der interpersonellen Unmöglichkeit. Und in all diesen Eigenschaften Epitom der Hilflosigkeit.

Nicht, dass nicht zahllose andere Cafés einen ebenso repräsentativen Schnitt durch die Bevölkerung gäben. Ebenso wie Restaurants, Hotels, Kinos – eben Orte, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind und wo sich diese Öffentlichkeit ihr Stelldichein gibt. Und: Nicht, dass ich in diesem Café schon viele nette und liebe Bekanntschaften gemacht und durchaus köstliche Vanilleberliner gegessen hätte.

Doch dies:

Stühlerücken: Sobald ich in die Nähe des durchtischten Raumes gerate, sehe ich Hände. Es sind die tastenden Hände sitzender Gestalten, die tastend die Sitzfläche des Stuhles, auf dem sie bis anhin so entspannt, vertieft in fröhliche Konversation oder rahmige Konsumation, sassen. Sie finden und fassen dann mit einem winzigen Ruck, unterstützt von einer koordiniert stemmenden Bewegung der Beine, in abruptem Alarm, in unvermittelter Stummheit, einen Zentimeter weit ihren Sitz. Richtung Tisch. – Sie haben jetzt Platz gemacht. Ja jaaa! Platz für Dfrau-im-Rollschtuel. Dabei ist nicht wesentlich, dass hinter dem Stuhl ja eh ein Meter Platz war („ich“ bin 59cm breit). Dreiunddreissigmal wär ich da durchgekommen. Sie haben Rücksicht demonstriert, die Leute. Haben auch alle gesehen, wie aufmerksam und rücksichtsvoll sie sind? – Keeeeeiine Frage, wie unangenehm mir dieses vollkommen unsinnige Gebaren ist.

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Manchmal werde ich gefragt, wie ich denn behandelt werden will. Vielleicht werde ich in Zukunft sagen, dass erst bei kleiner 65cm stuhlgerückt/hilfegefuchtelt/aus dem Weg gesprungen/Kinder beiseite genommen/Hunde beiseite genommen/sölli oder mueni oder muemer-gefragt werden soll. Das ist doch recht präzise, nicht? Jetzt haben alle eine konkrete Angabe in einer gängigen Masseinheit. Bitteschön. Dankeschön.

Also in dieses Café geh ich immer wieder, weil ich einfach dahinter kommen will. Was ist es? Was lässt die Bedienung diese beknackte Hammahammabewegung machen, wenn sie mich fragt, ob das Thunfischsandwich mitnehmen will oder gleich hier essen? Hier essen? Hammahamma? – Was ist es, das meine Tischnachbarin totalverstummen lässt, wenn ich sage, dass ich eigentlich lieber nicht mit ihr über meinen Körper reden möchte? Als ob es kein anderes Thema gäbe, worüber man mit mir sprechen könnte.

Ich solle versuchen, die Funktionalität zu beurteilen, nicht die Moral, schlug die blonde Venus heute vor, die ich mir durch mein eigenes Inserat in die Wohnung geschneit habe. Die gute Frau an der Theke könne es wohl nicht anders. Und so schneie ich mir also die benötigte Erklärung ins Haus: Die gute Frau kann eben nicht anders. Mein Moralmassstab war der falsche, als ich ihr zujapste, sie solle diese unmögliche Geste unterlassen.

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Was das alles mit Assistenz zu tun hat?

Meine Assistenten können meine Seele vor dem Stress retten, sich dauernd in diese andere Welt zu flüchten, wo sich der Indianerjunge hin verkrochen hat, wo sich das beinamputierte Mädchen auch schon öfter versteckt hat. Wo auch ich mich hin beame, wenn Stühle bescheuert in der Gegend rumgerückt werden, wenn Gesellschaften verstummen, sobald ich in den Raum rolle, wenn ich auf Treppenraupen der SBB in die Unterführung hinuntergekracht werde und der ganze Bahnhof starrt. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die ich nicht jeder Assistentin oder jedem Assistenten zumuten kann.


Es ist einerseits nicht die Aufgabe der Assistenten, sottige-wie-mich zu beschützen, abzuschirmen oder vor Unzulänglichkeiten zu bewahren – hierzulande haben wir eh schon genug gegen Zerfürsorglichkeit und Ultravollversorgung anzugehen. Auch sind meine Assistenten voll platt und absolut sprachlos, wenn ich ihnen von den Händen erzähle, die mir unvermittelt von hinten an die Schulter fassen („goht’s?“) oder meinen Rollstuhl ganz ungebeten in der Gegend rumschieben wollen (es ist ein Elektro, was man aber nicht auf den ersten Blick sieht und die Räder sind blockiert und die Leute schieben und rütteln ganz umsonst, hehehe!). Auch haben nicht alle Assistenten das Feingefühl, kritische Situationen im Ansatz schon zu erkennen und die notwenigen Kompetenzen, dumme Ungeheuerlichkeiten abzuwehren. Ausser Herbert ist kein Assistent solcher (Schutz-) Engel mit Managerfunktion. Denn: Managerin bin ja eigentlich ich. Und da kommt das Andererseits ins Spiel: Andererseits kann ich manche (allerdings wohl die wenigsten) Assistentinnen und Assistenten damit beauftragen, mir die ständigen Fuchteleien der Menschen vom Leib zu halten. Vom Leib und von der Seele, die ich so vom ständigen Abzischen in die „andere Welt“ und vor frühzeitiger Entkräftung bewahren kann.

4.5.07

Übersetzungen

In so einem kurzen Text wie dem folgenden kann dieses Thema weiss der Himmel nicht abschiessend behandelt werden. Aus meiner (in schreiender Trauer bemerkt) schon Jahre zurückliegender Studienzeit tauchen Satzfetzen wie „wie viel soll man [über den Originaltext] wissen“ oder „Übersetzung ist Wieder-Dichtung oder Wiederhol-Dichtung oder Neudichtung“ auf.

Bekannt ist auch das Phänomen derjenigen Übersetzung, wo es nicht um zwei in hinlänglichem Wissen unterschiedliche Sprachen geht, wie etwa Deutsch und Japanisch oder Englisch und Französisch. Wir alle wissen um den Unterschied des umgangssprachlichen oder alltäglichen Deutsch einerseits und des Arbeitgeberdeutsch andererseits. So bedeutet eine Aussage wie „Frau Soundso erledigte ihre Arbeiten zu meiner Zufriedenheit“ in einem Abschlusszeugnis von mir als Assistenznehmerin und Arbeitgeberin soviel wie „Madame Blabla hat nur grad Dienst nach Vorschrift geleistet und das noch nicht mal mit Note 4 und ich bin froh, dass sie von meiner Bildfläche verschwunden ist“. Wohingegen „sie erledigt die Arbeiten zu meiner grossen Zufriedenheit“ in der Tat beinah wörtlich zu nehmen ist.

Ebenfalls bekannt ist der gesellschaftliche Kurzschluss, der unter der Bezeichnung der Political Correctness zu unverdaulichem Goldüberzug kam.

Dicke Menschen sind nicht dick, sondern horizontal herausgefordert, so wie kleine Menschen nicht klein(wüchsig) sind, sondern vertikal herausgefordert (bis heute ist keine Antwort bekannt, wie magersüchtige Menschen oder solche von ungewöhnlich grosser Körpergrösse zu bezeichnen sind, ganz zu schweigen von jenen, die im horizontalen Gewerbe täglich tatsächliche Herausforderungen zu meistern haben).

„Nach der Durchführung der Rechnungskontrolle wird die IV-Stelle keine Rückmeldungen vornehmen. Ausser es entstehen Fragen oder aufgrund der Reservenbildung müssen Betragsanpassungen vorgenommen werden.“

Teilnehmende am Pilotprojäckt Assistenzbudget kennen diesen Passus. Am Ende des Briefes mit der Aufforderung zum Einreichen von Lohnabrechnungen, SVA-Belegen und weiteren Quittungen zwecks einer (ersten) Rechnungskontrolle wird er einem in aller grammatischen Fehlerhaftigkeit mit voller Uneleganz ins Gesicht geschwartet.

Ich liebe Aussagen, bei denen sich die Sprecherin oder der Sprecher nicht das Geringste gedacht hat. Denn genau diese Sätze sind es, die eine zutiefst empfundene Haltung ausdrücken, eine, die derart eingeboren ist, dass sie das eigentliche Bewusstsein überhaupt nicht erreicht.

Um wieder jeglichen Angriffen und Drohungen auszuweichen, lassen Sie mich anführen, dass wir den Bereich der Übersetzungen verlassen und in ein neues, allerdings angrenzendes, Feld vordringen, nämlich das der

Interpretationen.

„…wird die IV-Stelle keine Rückmeldungen vornehmen.“ – Die gesamte zeitraubende, Energie raubende und zeitlich höchst aufwändige Rechnerei von uns Teilnehmenden am Pilotprojäckt verläuft also ohne Echo. Was wir Teilnehmende am Pilotprojäckt rechnen, ist letztlich schnurzwurscht. Was wir als Reserve errechnen, können wir uns in die Haare streichen, denn wichtig und richtig ist doch nur, was die IV-Stelle ihrerseits berechnet. Dass die IV-Stelle Fehler machen könnte, ist mit gänzlichster Vollständigkeit auszuschliessen, denn nur ein Vergleich (freilich mit der Rechnerei von Teilnehmenden selbst) könnte Fehler an den Tag bringen. Ja aber oh mei!! Welch eine Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung der IV-Stelle ihre eigenen Rechenfehler aufzeigen könnte. Könnte! Wär ja furchtbar. Unerträglich!! Ja also dann schon lieber „keine Rückmeldung“.

Dass ein solcher Vergleich mit der individuellen Bilanz einer und eines jeden Teilnehmenden zu aufwändig sei… klingt es in meinen Ohren, ohne dass ich dieses Argument je ausgesprochen gehört hätte… Seufz!!!

Jetzt allerdings beginne ich mich allen Ernstes zu fragen - - wozu wir Teilnehmende am Pilotprojäckt denn überhaupt rechnen??? Wozu wir uns den Kopf zerbrechen, wie hoch wir die Rücklage für die AHV-Beiträge unserer Assistenten veranschlagen sollen – Handgelenk mal Pi sollte doch genügen? Die IV-Stelle rechnet doch richtig und genau. Und die Monatsabrechnung? Wozu denn?? Ein vorgedruckter, kopierter (und vernünftig adressierter – dies nur als Anregung…) Zettel würde doch reichen, „Bitte Budget wieder auszahlen! Danke!“ – Nein ehrlich, wozu müssen wir eine Reserve berechnen und ein ganzes Formular rappengetreu ausfüllen?

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Diesen Text schrieb ich vor drei Wochen. Er ist unvollendet, doch die Aussage dürfte deutlich genug sein. Wir können uns winden und behaupten, wie wir wollen – es hat doch keinen Sinn. Wirklich ernstgenommen, wirklich als mündig angesehen werden wir nicht. Es hat solange keinen Sinn, bis nicht die Versorgermentalität aus den Köpfen der fit-for-work-people raus ist und das Bewusstsein eines schlichten Andersseins von solchen-wie-mir nicht drin. Was die fit-for-work-people freilich nicht daran hindert, mich in die Schranken zu weisen, weil ich ihre Namen aufs Korn nehme (sorry, aber diese kleine Retourkutsche müssen Sie mir schon gönnen…) – schliesslich geben sie mir doch ein Budget, was mich privilegiert – ja aber dann soll ich bitteschön den Schnabel halten. Man beisst nicht die Hand, die einen füttert. – Stimmt ja auch. Oder…? Darf ich denn wirklich nichts sagen, wenn der Apfel, den man mir in brustklopfender Grosszügigkeit gibt, ein paar faulige Stellen hat…? – Kann mir irgendwer aus diesem ethischen Labyrinth von Sollen/Können/Dürfen/Wollen heraushelfen??