26.8.07

Chliises Määrli

Es war eine absolute und vollkommen unerwartete Sensation, wen mir die Spitex da schickte: eine junge, kräftige, intelligente Frau sonnigsten Gemüts und mit aufrichtigstem Bemühen, alles so zu erledigen, damit ich mich einfach wohl fühle. Wie sich herausstellen würde, war sie auch zu den geistreichsten Konversationen bereit und konnte ein strahlendes Lächeln herbeizaubern, das mich begeistern und überdies vergessen lassen würde, dass ich mich ja in einem Zustand befinde, in dem ich sie brauche.

Kurz vor 9 Uhr trat sie in meine Wohnung, gab mir drei freundschaftliche Schmatzer links rechts links, half beim Anziehen und dann gleich beim Packen für die ja eh nur zwei Tage und kochte Kaffee, obwohl das doch in die Sparte Haushalt gehört, nicht Pflege, und eigentlich jemand anders von der Spitex dafür kommen müsste (Verrechnung erfolgt freilich innkl Anfahrtsweg, was die Krankenkasse wiederum nicht bezahlt..). Auf ganz wundersame Weise wusste sie, wo der Rucksack ist und wo der Regenschutz, sie war ja noch nie da gewesen, alles Zurechtgelegte fand seinen Platz und schliesslich bekam Kafka noch sein Frühstück, ja sogar das ging fluggs, denn sie verstand mich total gut, fragte kaum nach und stellte alles, Schälchen und Katzenmagenmedizin und Knaskies, an den richtigen Ort. Wusch ab, versorgte alles intuitiv ganz richtig, Schüsseln, Teller, Gläser in ein Kästchen auf Rollstuhlhöhe (für die meisten Menschen eine unvorstellbare Ungeheuerlichkeit) und machte das Bett, Kissen am richtigen Ort. Und dann! Ja dann!! Sie nahm ihr Köfferchen und KAM MIT! Denn ich plante einen Ausflug auf die Insel Reichenau. Denn es soll dort einfach schön sein.

Callcenter SBB: „Nei mer chönnd Si numenin Chrüüzlingä uuslade, Kkkonnschtants gooht nöd, das sind di Ddütsche und denä müest me zwoi Täg vorane Bscheid gäh.“ Also Zug bis Kreuzlingen, wo ich zu Boden gekurbelt werde. Von einem breit grinsenden Dunkelhäutigen, den wir nach einem Taxi fragen, das uns nach Konstanz bringen möge. Worauf die Grinsbreite noch weiter zunimmt und der Mann uns vorausgeht und winkt, zu einem leeren Taxi winkt, uns zum Einsteigen auffordert und sich gleich selbst ans Steuer setzt. - Schlitzohr mit optimiertem Geschäftssinn. - So kommen wir über die Grenze nach Konstanz.

Und dann per Schiff auf die Reichenau.

Und da gleich ins Hotel unweit des Anlegesteges. Wir beziehen unser Zimmer. Dass ich nicht müde bin, ist kaum zu glauben. Doch das Spithexli hat mir alle anstrengenden Handgriffe abgenommen, hat mir das Sprechen abgenommen, hat mich aufs Schiff gerumpelt, Billete gekauft, Verpflegung gekauft, meine Füsse auf die Reling hochgelagert, hat hat hat hat hat! Da darf es sich kurz ausruhen.

Ein Spaziergang in der Sommerabendsonne, ein Blinzeln im Gras. Und dann der Knaller des Abends: ein Essen für nur sieben Franken! Sieben! Fantastisch! Wer das berechnet hat, gehört der für den Nobelpreis für Ökonomie angemeldet. Welch eine Mischung von Genie und Praxisbezogenheit! Eines der Highlights im Pilotprojäckt! Früher wusste ich echt nicht, wie kostengünstig ein Abendessen ist. Ich hätte also schon auf eine zweistellige Zahl getippt. Aber man lernt ja nie aus…

Später hilft mir die sanfte Spithexe ins Bett und knetet meine Wirbelsäule einigermassen schmerzfrei - dass es nicht anhält, dafür kann sie nichts. Noch ein paar Stunden wälze ich mich zwischen Erinnerungen an Gesprochenes, an Erlebtes, in Staunen und Aufregung um einen derartigen Ausflug, also einen mit bezahlter Unterstützung, fremder Ort, fremde Luft, entrückte Zeit, und neben mir eine Märchenfigur, die intuitiv alles richtig macht, die mich entlastet, ja wirklich, die mir Freude macht. Ich kann sein. Bisher bekam ich so oft den Eindruck, ich müsse sein. Notwendiges Übel. Mehr übel als notwendig. Ich wälze mich auch vor Schmerzen…

***

Die Nacht war natürlich zu kurz. Es ist einfach ein Jammer mit diesen Frühstückszeiten, die nur bis zehn sind, man muss spätestens um halb zehn im Frühstücksraum sitzen, weil man sonst den Kaffee nur noch mit trockener Brotrinde tünkeln kann. Als Ataxler ist man besser schon um neun da, weil sowieso alles doppelt so lang dauert. Minus aufstehen aus fremdem Bett und Waschen in fremdem Bad und Anziehen mit Hilfe von noch ungeübten Häxlihänden macht sieben Uhr dreissig. Dabei könnte grad eine-sottige-wie-ich ein wenig Plus an Ruhezeit brauchen. Doch wer würde auf einen Abend wie den vorherigen verzichten wollen! Klare Nachtluft, die Dunkelheit erhellt vom Sternenlicht und einer halben Scheibe Mond, die sich auch noch im kaum bewegten Wasser spiegelt. Ein scheu träumendes Häxli neben sich auf dem Bootssteg. Hebt man den Blick vom Horizont und achtet dennoch auf ihn, wird das Licht darüber heller. Sinnestäuschung. Spiel der Sinne.

Am Morgen, im Bad, war ich tief berührt vom feinen Sinn der jungen Dame von der Spitex. Mit unendlich zartem Gefühl legte sie den nassen, wohltemperierten und mit Seifenlotion getränkten Waschlappen in meine Reichweite und verliess den Raum, nur um beim leisesten Laut gleich zu fragrufen, ob ich sie brauche? Vorsichtig wusch sie meinen Rücken, als ob sie seine Klagen besänftigen wollte. Wer hatte ihr das beigebracht? Wo war sie ausgebildet worden? Woher wusste sie um mein Seelesein in kaputtem Körper und Ganzsein trotz kaputtem Körper? Und ging so spielerisch leicht, wiewohl keineswegs leichtfertig, damit um?

Was folgte, liess mich wünschen, nie mehr was anderes als auf Assistenz angewiesen zu sein. Vier Franken für Lachs und Pastete und drei verschiedene Sorten Brötchen und Saft und Tee. Da kann sich die Migros mit ihrer Sommeraktion – sechsfünfzig für Kafi und Gipfeli und Gummfi – doch glatt verstecken! Wusste ich echt nicht. Wie billig alles auf einmal wird, wenn man am Pilotprojäckt teilnimmt. Da hat das Rechenwunder wieder zugeschlagen. Der Welt entrückt werden solche-wie-wir eben auch, indem wir weltentrückten Absurddefinitionen unterworfen werden. Frühstück vier Franken, Mittagessen neun, Abendessen sieben. Ein anachronistischer Geniestreich, das. Ja ja ich weiss, diese Zahlen betreffen nicht das Essen selbst, also das „Material“, sondern Zubereitung/Bereitstellung/Einschenken usw./Abräumen. – Ja und jetzt? Als ob das was ändern würde an der Aussage. Bei einem Nettstundenlohn von Fr. 24.- entsprechen 4.- einem Sechstel einer Stunde, also 10 Minuten. Soll mir einer vormachen, wie man in 10 Minuten Saft bereitstellt, Kaffee kocht, Müsli mischt, Brot und Butter und Pâté serviert, den verschütteten Kaffee aufwischt und neu serviert, ach! Und freilich: alles aufräumt und abwäscht. Hm. Aber was will ich Wahnsinnsanspruchsvolle denn, Instantkafi mit Röhrli und ein Gipfeli sind ja genug des Frühstücks für eine-solche-wie-mich, „gesundes Essen“ oder gar stilvolles Essen sind Luxüsser, Luxi, Luxen, ???, für so was kommt die IV doch nicht auf, wo sind wir denn (in einem der reichsten Länder der Erde)?

Die geneigte Leserin, der gebeugte Leser hat es freilich längst bemerkt: Das mit der Spithexe ist Unsinn. Obschon sehr wohl Hexen Magie treiben, war es doch in Wirklichkeit ein Assistent, der mich hier bezauberte. Anzauberte. Umzauberte. Und mir Tonnen unsäglicher Blicke, unsäglicher Fragen und unsäglicher Bemerkungen vom Hals zauberte. Hubert… Nee, keine Schulung in Aktivierung, aber gesunder Menschenverstand plus auch schon ein paar Mal Kaffee gekocht plus Beobachtung der Autorin dieses Textes plus Talent plus guter Geschmack plus feiner Stil lassen den schwarzen Tühürkehentrank zu Hause so wohl schmecken wie im Restaurant, wo nur die Assugrine aus dem Papierli raus und in die Tasse rein zu fummeln sind.

Synopsis: Kaffee kochen gehört zum Haushalt. Begleitung im Restaurant macht die Spithex nicht, also das muss unter Assistenz laufen. Reinfummeln der Assugrine in den Kaffee gehört zu den allgemeinen Lebensverrichtungen, das wiederum besorgt die Schpitex sehr wohl. Allgemeine Lebensverrichtung im Restaurant dann aber wieder nicht. – Weiss eigentlich Otto Normalverbraucher, was Kaffeetrinken für eine komplexe Angelegenheit ist? Noch schlimmer wird es in der Bäckerei gegenüber, wo ich mit meinen Assistenten öfter hingehe, dort ist nämlich Selbstbedienung. Also mein Assistent lässt den Kaffee raus, weil ich das selbst nicht kann, Allgemeine Lebensverrichtung, Spitex ja. Assugrin rein, eigentlich auch ALV, aber da auswärts, Assistenz. Löffel rein, Löffel raus, ausleeren, bitte lieber einen Papierbecher, alles von vorn, Spitex, Assistenz, und wenn ich mir schon die Haare raufe und bete, die Dinge mögen doch einfacher und weniger peinlich werden, tritt sicher eine der Damen von der Shpitex, die früher bei mir ein und aus gingen, an den Tisch und fragt, wie es mir denn geht?

Zurück auf die Reichenau, bzw. zurück von der Reichenau. Es regnet. Hubert knipst die Sonne dennoch an, denn er lächelt. Wir haben’s gut, fliegen aus, ich bin entspannter, nicht so zickig, kann mit Regenschutz auf Deck, bin allein, fotografiere im Nassen, Grauen. Kann sein.

***

Eine vernünftige Fertigstellung dieses Textes wurde durch eine Tage dauernde Serie von Rückenkrämpfen verhindert. Jetzt fehlt mir die Geduld, die Ruhe, die Inspiration. Ich kann kaum noch sitzen, muss mich öfter hinlegen. Meine Eltern und freilich Hubert haben das Schlafzimmer umgestellt und neue Hilfsmittel montiert (Haushalt oder Allgemeine Lebensverrichtungen?), auch gebastelt, gozzeidank hab ich solche Wesen um mich. Andere Leute haben Probleme, wenn ich ihren Namen auf die Schippe nehme oder mich nicht vor ihrer weissbekittelten Autorität bis in den Staub hinab verneige. Bon Dieu…

Übrigens: Wer es nicht gewusst hat, kann es sich nun ins Gedächtnis schreiben: Die Haltestelle Kreuzlingen Hafen ist nicht der Bahnhof Kreuzlingen. Ja, die zwei Lokalitäten liegen noch nicht einmal nahe beieinander. Wer dies erfährt, bei einsetzendem Regen und aussetzender Batterie und ansteigendem Gelände, vergisst es bestimmt nie mehr!