3.7.06

Wasseradern und die Kantonsverfassung

Wir waren beim Bahnhof Stadelhofen ausgestiegen. Meine Assistentin fummelte gerade mein Portemonnaie aus dem Täschli, um noch Wasser zu kaufen im Coop. Ganz unvermittelt stand der Alte mit der Krücke vor uns. Er lächelte sehr seltsam, irgendwie begeistert, ging in die Knie, als ob die aus Gummi wären, beugt den Oberkörper leicht vornüber und begann eigenartige, rhythmische Bewegungen, die an einen grotesken Schuhplattler erinnerten. Die Krücke schwang er im Takt mit. – Ich blickte hinter mich, ob da vielleicht der Adressat dieser Performance stünde, und Carina fragte leise, ob der mit seinem Tänzchen wirklich uns gemeint habe? – Es ist eben Sommer in der Stadt…

Beim Eingang zur Anlage um die Grossleinwand standen noch wenige Fans. Freundliche Sicherheitsleute rückten die Absperrung beiseite, und wir suchten unseren Platz direkt hinter dem Rasenteppich, weil alle Zuschauer auf ihm nur bequem fläzten und ich eine wunderbare Sicht hatte.

In der Halbzeitpause fädelte sich jemand durch die sitzende Menge und wies mich drauf hin, dass „da hinten“ Platz für die Rollstühle wär (meinte er, ich solle doch meinen Rolli quasi ausziehen und „da hinten“ hinparken? Selber aber da bleiben…? Wann setzt sich im Sprachgebrauch endlich die Bezeichnung „Rollstuhl“ für das leblose Ding und „Mensch mit Rollstuhl“ für das lebendige Wesen durch?). Von dort sähe ich besser. Worauf ich fand, ich könne eigentlich ganz gut selbst befinden, dass ich eine absolut perfekte Sicht habe. Wir blieben.

Weil zum 11er-Schiessen alle aufstehen würden, wollten wir ganz nach vorn. Dort kam dann auch wieder so eine zuvorkommende Uniform (ohoo!! Ich rede von Uniform, nicht vom Menschen in der Uniform, und schon kriegt das Ganze einen verächtlichen, ironischen Touch! Ja ei ei!! – Und bemerkt wer die Parallele?). „Da hinten“ sei Platz für Rollstühle… Carina fragte mich, ob das wirklich so sei, als ob man nicht selber entscheiden könne… Carina ist eben noch neu. Ausserdem liess man mich ja,. Nur könnte man den Platz „da hinten“ ja auch deutlich signalisieren statt die Rollstühle dauernd zu pestern mit gut gemeinten Hinweisen. – Im übrigen gewannen die Falschen.

Am späteren Abend, nach dem Essen, wollten wir noch die letzten paar Minuten vom letzten Viertelfinal schauen, und weil da jetzt bei der Grossleinwand wirklich sehr viele Leute waren, liessen wir uns gerne vom uniformierten freundlichen jungen Mann durch die Brasilianermassen dirigieren. Und jetzt kommt’s: „Da hinten“ ist genial! Am Fuss der Tribüne, leicht erhöht, in der Mitte (!!!), zehn Quadratmeter nicht überlaufene Fläche, einfach super! – Und dann gewannen erst noch die Richtigen!

Es war schon spät, als wir in den bestellten Kombi einstiegen, und es war just die Stelle, wo der Alte mit der Krücke seinen bizarren Swing hingelegt hatte. Carina half dem Taxichauffeur, meinen Rolli hochzuheben, als ein junger Mann aus dem Nichts auftauchte und sich auf die Ladefläche warf, „um zu schlafen“. Auf die Bemerkung hin, dass jetzt eigentlich der Rollstuhl eingeladen werden sollte, stand der junge Mann wieder auf, grummelte ein „dann eben nicht!“ und verschwand – eben Sommer in der Stadt…

Am Stadelhofen muss es Wasseradern geben. An der Stelle vor der Importparfumerie muss die Wasserader schlicht crazy sein und manche Menschen, die auf sie treten, mit irgendwelchen Elektrostössen ganz wirr im Kopf machen. Der Platz „da hinten“ bei der Grossleinwand ist hingegen vermutlich der neuen Zürcher Verfassung zu verdanken, wo Artikel 11 Absatz 4 sagt: „Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf Zugang zu öffentlichen Bauten, Anlagen, Einrichtungen und Leistungen.“ Allerdings muss der Architekt dieser Spektakelanlage auf einer besonders günstigen Ader gesessen haben, als er diesen kleinen Platz für Leute mit Rollstuhl entwarf – nicht weit hinten oben, nicht unten und nicht an der Seite… - Übrigens, Kompliment an die Verfasser der Verfassung. Sprechen sie doch von Menschen mit Behinderungen und nicht von Rollstühlen…